Plague – eine App setzt auf Viralität und wurde von enttäuschten Nutzern der Big Player im Social Media Business frenetisch bejubelt. Aber taugt „Plague“ auch für journalistische Zwecke? Ein Zwischenbericht.
„Das Video muss viral gehen. Der Beitrag ebenfalls. Seht zu, dass das möglichst viele teilen.“ Diese Sätze sind seit dem Boom der Social-Media-Plattformen häufiger in Medienhäusern zu hören.
Bekannt sein dürfte jedoch: Content Marketing über soziale Medien erinnert an ein Spiel. Wenn du es das erste Mal spielst, probierst du aus, was geht. Du beobachtest, was Erfolg hat und versuchst dann, den Erfolg zu kopieren oder zumindest zu wiederholen. Ob es gelingt, ist dabei vom richtigen Timing und diesen drei Punkten abhängig:
- Von den Spielregeln, die der Konzern hinter den sozialen Netzwerken vorgibt. Diese Spielregeln können sich jederzeit ändern.
- Von der Zeit, die Redaktionen zur Verfügung haben, um die Ergebnisse ihrer Spielversuche auszuwerten und daraus zu lernen.
- Vom Inhalt, denn auf den sozialen Medien spielen Emotionen eine entscheidende Rolle. Berührt ein Post, ein Tweet oder eine Card die Leute nicht, wird ihre Neugierde nicht geweckt, hat der Inhalt kaum eine Chance viral verbreitet zu werden.
Jetzt gibt es wie bei jedem Spiel die Möglichkeit zu schummeln – nennen wir es besser: Es gibt die Möglichkeit sich einen Vorteil zu verschaffen, wenn man die nötigen Mittel hat. Bei Facebook und auch bei Twitter können Nutzer dafür zahlen, dass ihre Beiträge prominent in den Timelines auftauchen.
„Das Anti-Social-Network“
So oder so ähnlich war es bisher bei sozialen Netzwerken. Ende 2014 brachte nun das Start-up Deep Sea Marketing eine App auf den Markt, die mit all diesen Punkten bricht. t3n.de nannte sie „Das Anti-Social-Network„. Das App-Logo zeigt einen stilisierten Virus, die App trägt den Titel Plague.
Die Idee dahinter ist denkbar einfach. Die virale Verbreitung von Nachrichten, Fotos und Videos funktioniert wie in der Medizin. Ein Beispiel: Eine Gruppe von Menschen sitzt in der U-Bahn. Ein an Grippe erkrankter Pendler niest und die Viren werden von den anderen Passagieren der U-Bahn eingeatmet. Werden diese von dem Virus infiziert, stecken sie vermutlich andere an. Sind die Abwehrkräfte stark genug, hat der Virus aber keine Chance.
Das Prinzip ist so alt wie die Menschheit. Mund-zu-Mund-Propaganda funktioniert seit Jahrhunderten auf diese Weise. Nur ist die Welt heute ein Dorf und das hat Deep Sea Marketing erkannt:
Das Plague-Konzept:
Wer sich „Plague – The Network“aus dem App-Store / Google Play herunterlädt, installiert und sich ein Konto anlegt, ist Plague-Nutzer. Seiten, Communities oder Werbeanzeigen gibt es nicht. Alle Nutzer sind von Beginn an miteinander vernetzt. Sie können sich nicht gegenseitig folgen.
Die News-Infektion beginnt dort, wo ein Nutzer eine neue Card (so heißen die Tweets / Posts bei Plague) veröffentlicht hat. Zunächst bekommen die vier geographisch nächsten Nutzer die Information angezeigt. Diese können dann weitere Nutzer infizieren, indem sie die Card nach oben wischen. Wischen sie auf dem Display nach unten, endet die Infektion. Jede Card kann kommentiert werden.
Wenn der nächste Nutzer 500 Kilometer entfernt ist
Die Spielregeln der App sind einfach. Gerade für lokale Ereignisse sollte sich die Plague gut eignen, dachte ich im Dezember 2014. Theoretisch müssten sich Cards doch wie ein Lauffeuer in einer Stadt verbreiten. So einfach ist es leider nicht, denn Plague hat noch immer nicht genug Nutzer dafür.
Ich hatte am 19. Februar um 10.33 Uhr die Warnung der Bundesagentur für Arbeit vor SPAM-Mails auf Plague veröffentlicht – wohlgemerkt in der Nähe von Darmstadt, Südhessen.
Allerdings hatten um diese Zeit wohl nur wenige Nutzer die Plague-App geöffnet. Meine beiden geografisch nächsten Nutzer waren in Berlin und in der Schweiz. Nun können die natürlich auch etwas mit der Warnung anfangen. 162 App-Nutzer haben schließlich die Card gesehen, weil meine nächsten Nutzer weitere Nutzer infiziert haben.
Würde ich nun zum Beispiel über die Bauarbeiten in der Rheinstraße in Darmstadt eine Card veröffentlichen, hat diese für den Nutzer in Berlin und den in der Schweiz keinen Mehrwert. Sie werden die Card nach unten wischen. Sind auch die beiden nächsten Nutzer nicht in meiner Region, bekommt die Card vermutlich niemand aus Darmstadt oder Darmstadt-Dieburg zu Gesicht. Dabei wäre eine Sperrung der Rheinstraße, die eine der Hauptverkehrsachsen in Darmstadt ist, lokal ein Aufregerthema.
Beobachtung 1: Für Lokaljournalisten lohnt sich die App derzeit nicht wirklich. Dazu sind – mit Ausnahme der Großstädte – noch nicht genug Nutzer in der geographischen Breite aktiv. Das könnte sich aber schnell ändern. Der Wunsch nach lokalen Inhalten ist in der deutschen Community durchaus vorhanden.
Community: Wir machen unser eigenes Ding
Die Plague-Nutzer veröffentlichen bisher eher selten Informationen, die nur in einer bestimmten Region interessant sind. Bei Plague passiert es schnell, dass deutschsprachige Cards Nutzern aus Frankreich, den Niederlanden, Litauen, Russland oder gar USA angezeigt werden. Die können nur in Ausnahmefällen Deutsch. Umgekehrt ist das natürlich auch ein Problem.
Cards wie …:
„An alle Deutschen: Bemüht euch auf Englisch zu schreiben. Was ihr zu sagen habt, wird dann mehr Nutzer erreichen.“
… waren im Dezember und auch Anfang Januar noch häufiger zu lesen. Die Antwort aus Deutschland:
„Wenn eine Card auf Deutsch ist, dann ist sie nicht für andere gedacht. Wischt sie also einfach nach unten.“
Doch so einfach ist es nicht. Zwar sind die Diskussionen über die richtige Sprache für Cards weniger geworden. Viele Plague-Nutzer aus Deutschland posten allerdings inzwischen englischsprachige Cards. Sie haben sich damit dem Verständnis der internationalen Community gebeugt:
Plague ist zum Austausch von Meinungen und Gedanken über Ländergrenzen hinweg da.
Es gibt Cards in denen nach ungefilterten Berichten von Nutzern aus der Ukraine oder Russland gefragt wird. Die Hoffnung auf eine Kommunikation ohne Zensur (und Lügenpresse) ist da.
Die Community nutzt Plague damit anders, als es das Deep Sea Marketing Konzept vorsieht – und ich es im Dezember erwartet habe. Aber ein Medium ist eben immer das, was die Nutzer aus ihm machen.
Beobachtung 2: Wenn Journalisten die Community ernst nehmen, dann ist Plague (neben Twitter) gerade in den „Krisen“-Gebieten eine gute App. Die Nachfrage nach Informationen ist weltweit vorhanden, wenn die Card-Sprache Englisch ist. Text reicht den Nutzern, um Nachrichten viral zu verbreiten.
Fotos, Links, Text – Was geht viral?
Eine andere Devise, die viele Plague-Nutzer in der Anfangsphase herausgegeben haben, hat sich dagegen nicht durchgesetzt. Es gab Cards, die dazu aufgerufen haben, alle Cards mit Fotos (Bildmaterial) nicht weiter zu verbreiten.
Diese Text-Fetischisten haben sich nicht durchgesetzt. Viele nutzen die App um Landschafts- oder Städtefotos zu teilen, einige weitere Nutzer posten Inhalte von 9gag.com. Der Anteil dieser Cross-Poster ist aber zurückgegangen, weil die Community entsprechende Cards nicht verbreitet. Eigens für Plague verfasste / produzierte Inhalte sind der Community mehr Wert.
Eher selten sind dagegen noch Cards mit Links zu Webseiten. Hier hat Deep Sea Marketing auch erst Wochen nach dem App-Start nachgebessert. Anfangs konnten URLs nur als Text eingefügt werden. Inzwischen bietet Plague Nutzern die Möglichkeit die URL, die in der Zwischenablage des Smartphones liegt, in Cards einzufügen. Auch über die Sharing-Funktion des Betriebssystems können Links in Plague geteilt werden.
Beobachtung 3: Die üblichen Tracking-/Analysetools erkennen Zugriffe von Plague nicht so, wie dies etwa bei Facebook, Twitter oder Google+ der Fall ust. Um herauszufinden, wie viele Klicks von Plague kommen, kann jedoch an die URL beispielsweise ein „?plague“ oder ein anderer Tag angehängt werden. Dann werden die Zugriffe über Plague etwa in Google Analytics getrennt ausgewiesen.
Plague: Eine Reise ins Unbekannte
Ob Plague in wenigen Wochen, Monaten oder Jahren für Journalisten richtig relevant wird, ist schwer vorauszusagen. Das Start-up hinter der App entwickelt diese kräftig weiter. Seit dem App-Launch wurde Folgendes ergänzt:
- Link-Snippets in Cards einfügen
- Links in Kommentaren posten
- Zeitstempel in „Card mit Kommentaren“-Ansicht
- Bilddateien/Fotos abspeichern
- Kommentare können abonniert werden
- Ungelesene Kommentare werden hervorgehoben
- Löschen, Markieren, Kopieren, Antworten von / in Kommentaren und Cards
- Verified Users werden hervorgehoben
- Zoomen in der Infection-Karte in der Statisik
- Teilen von Cards in anderen Social Networks
Hinzu kommen die üblichen Verbesserungen der Performance und Fehlerkorrekturen. Plague ist auf keine App, mit der über Followerzahlen, Reichweiten oder Fans das Ego der Journalisten gepusht werden kann. Gerade bei Demonstrationen, Todesfällen von berühmten Persönlichkeiten und Krisen steckt in der App Potential.
Die ersten drei Monate mit der App deuten darauf hin, dass überregionale Themen eher virales Potential haben. Die Inhalte müssen ungewöhnlich sein und Nutzer direkt ansprechen. Aber: Auch ganz banale Cards, die etwa Lebensweisheiten enthalten, verbreiten sich wie ein Virus.
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Lese-Tipp:
- Plague: Eindrücke von der App für virales Verbreiten, Thomas Pleil (6. Dezember 2014)
- Das Anti-Social-Network Plague: Inhalte anonym und viral verbreiten, Jörn Brien (4. Dezember 2014)