Diskussionsallergie, Selbstwertkrise, Systemrevolution: Journalismus und gefühlte Wahrheiten
Wir Journalisten tappen in die Emotionsfalle. Wir werden mit der Psychologie der digitalen Lüge im Internet konfrontiert. Wie aber hat sich Journalismus, haben sich die Berichterstatter inmitten von gefühlten Wahrheiten und Mainstream-Medien verändert? Darüber diskutierten und stritten der TV-Chefreporter des SWR Mainz, Thomas Leif, und der Herausgeber von „Tichys Einblick“, Roland Tichy, beim #ftoj17 in Frankfurt am Main. Ein Rückblick – abseits der Vorwürfe, Ressentiments zu schüren, oder, mit dem öffentlich-rechtlichen System alle Möglichkeiten zu haben – und nicht zu nutzen.
Journalismus in der „Selbstwertkrise“
Wie ist es um den Journalismus im Jahr 2017 bestellt? Thomas Leif vom SWR in Mainz hat da eine klare Antwort: Der „Journalismus muss seine Selbstwertkrise überwinden.“ Ein höheres Selbstbewusstsein sei nötig, denn: „Es gibt zunehmend eine Konstruktivität von Realität, die an Schreibtischen entsteht“, kritisiert der TV-Chefreporter. Die junge Elite im Journalismus habe nicht mehr den Ehrgeiz, hinter die Kulissen zu sehen. Statt in die Tiefe zu gehen, orientiere sich diese Elite am Mainstream.
„Wir selbst sind in einer Art Selbstverblödungsspirale gefangen, wo wir den Leuten nichts mehr zutrauen“, sagt Leif und nimmt dabei auch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk von seiner Kritik nicht aus. Dort seien zu viele gute Sendungen in den Nischen versteckt. Und: „Das Problem sind die Gremien“, sagt der Chefreporter des SWR Mainz. Ob im öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder im Presserat, es gäbe in diesen Gremien eine Scheu vor den Konfliktthemen.
Leif bemängelt aber auch, dass sich die Nachrichtenwerte verändert hätten. Gesprächswert und Aufregerpotential hätten in der Gewichtung an Stärke gewonnen. Das ZDF habe dafür sogar einen eigenen Begriff: Angehthemen.
„Das System hat sich verändert“
Roland Tichy sieht dagegen eine grundlegende Veränderung im System. Der Begriff der und die Art des Umgangs mit der Öffentlichkeit hätten sich geändert. „Wir erleben eine technische Revolution“, sagt der Herausgeber von „Tichys Einblick“ in Frankfurt. Das bisherige vertikale System habe sich in ein horizontales geändert – „und dafür haben wir noch keinen Weg, wie wir damit umgehen“. Es helfe wenig, wenn wir in einem horizontalen System weiter vertikal denken.
Es sei dieser Systemwechsel, der das Berufsbild des Journalisten verändere, weil die Leute eben selber kommunizieren könnten. Wir Journalisten müssten nun auch wahrnehmen, dass es für uns Spielräume gebe. „Für uns Journalisten ist es eine Zeit der Chancen“, sagt Tichy und kritisiert, dass in Deutschland kaum Innovationen im Internet erfunden worden seien. „Sich zurücklehnen in die Modellwelt wird nicht erfolgreich sein“, sagt der Gründer und Herausgeber von „Tichys Einblick.“ Im Lauf der Diskussion empfiehlt er Leif und den anwesenden Journalisten dann auch: „Gehen Sie raus, gründen Sie (…). Sie müssen mutig sein.“
Mit Blick auf die Diskussion in der Branche über „Journalismus in der Glaubwürdigkeitskrise“ und Hass und Hetze im Netz, erläutert er: „Vieles, was wir hier erleben, ist, dass die Leute einen Widerspruch erleben zu dem, was wir schreiben.“ Wir Journalisten müssten als Erstes akzeptieren: „Sie folgen uns nicht“. So bilanziert er: „Die intensive Berichterstattung über Flüchtlinge hat dazu geführt, dass eine Ablehnung entstanden ist.“ Und: Die Leute würden die Informationen, die wir Journalisten ihnen geben, grundsätzlich emotionalisieren und interpretieren. Aber: „Ich glaube auch, dass es die Aufgabe von Journalisten ist, zuzuspitzen, die Dinge auf den Punkt zu bringen“, gibt Tichy mit Blick auf Leifs Kritik, dass Widersprüche verdrängt würden, zu bedenken.
Fehlende Klärungsenergie bei Journalisten
Thomas Leif bemängelt in der Diskussion mehrfach, dass die Medien nicht mehr zwischen unterschiedlichen Positionen mediatisieren. „Es gibt keine Klärungsenergie“, sagt er beim FTOJ17. Es gebe in Talkshows im Fernsehen nichts, wo Dinge darauf geprüft würden, ob sie stimmen. Wenn man sich die Diskussionen in den Talkshows ansehe, folge das, was dort geboten werde, meist dem Prinzip „Kasperle und das Krokodil“. „Es fehlt das Vertrauen, dem Publikum mehr zuzumuten“, mahnt der Chefreporter des SWR Mainz, „Wir haben zu wenig Leute, die die kritischen Positionen bringen.“ Daher brauche es eine Renaissance des Bildungsauftrags im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Der Slogan der Washington Post „Democracy dies in darknes“ habe etwas Wahres. In Deutschland „haben wir ausgebreitet von Frau Merkel eine gewisse Diskussionsallergie“, sagt Leif. Es gäbe auch hierzulande bereits eine Situation wie in Frankreich, nur rede keiner drüber. „Meiner Meinung nach sind wir nah dran an französischen Verhältnissen, der Auflösung von Parteien“, analysiert der Chefreporter des SWR Mainz und erhält in diesen beiden Punkten schließlich sogar Zustimmung von Tichy – wenn beide zuvor auch nicht mit gegenseitigen verbalen Attacken gespart haben.